Kleine Reisen in die Länder der anderen: Das 35. Unabhängige FilmFest Osnabrück - traditionsbewusst und wandlungsfähig

21.-25. Oktober 2020

Die Spielstätte Filmtheater Hasetor ist bereit für die Vorstellungen
Foto: Kerstin Hehmann
Die Spielstätte Filmtheater Hasetor ist bereit für die Vorstellungen Foto: Kerstin Hehmann

Das Festival startete am 21. Oktober 2020 nach einer langen Phase voller Ungewissheiten - anders als die 34 früheren Ausgaben und mit neuen Angeboten. Eine der Maßnahmen: Der Eröffnungsfilm WALCHENSEE FOREVER von Janna Ji Wonders wurde in drei Kinos gleichzeitig gezeigt. So konnten ausreichend Abstände gewahrt und die BesucherInnen auf mehrere Säle verteilt werden. Ebenso wurde mit dem angolanischen Independent-Film AIR CONDITIONER verfahren, der zum Abschluss des Festivals mit beeindruckenden Bildern einen markanten Schlusspunkt setzte. In einer Videobotschaft sagte „Air Conditioner“-Regisseur Fradique: „Film ist eine Kunst und sollte gerade in schwierigen Zeiten präsent sein.“

Das 35. Unabhängige FilmFest Osnabrück wurde diesem Wunsch gerecht. Fünf Tage, vier Spielstätten, eifrig genutzte Mitwirkungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, 70 Lang- und Kurzfilme, darunter die Weltpremiere des nordmedia-geförderten Dokumentarfilms DIE LETZTEN REPORTER, die besondere Aufmerksamkeit fand, weil Regisseur Jean Boué in dem Journalisten Werner Hülsmann einen seiner ProtagonistInnen in Osnabrück gefunden hatte. Zur Uraufführung waren neben Boué und Hülsmann weitere Mitglieder des Teams erschienen und stellten sich im ausverkauften Cinema Arthouse den Fragen des Publikums.Gespräche mit Filmschaffenden sind ein fester Bestandteil des Festivals. In diesem Jahr mussten auch diesbezüglich Alternativlösungen gefunden werden, darunter vorab aufgezeichnete Videobotschaften und -interviews oder Live-Schaltungen. Auf der Webseite des Festivals gab es die neue Rubrik „Closeup“, eine informative Zusammenstellung von Gesprächsmitschnitten, Interviews und Regienotizen. Auf besonderes Interesse stieß das Interview mit Sarah Gavron, deren teils improvisierter, ungemein authentischer Jugendfilm ROCKS über die 15-jährige Shola, genannt „Rocks“, im Rahmen des FilmFests als Deutschlandpremiere zu sehen war.

Festivalleiterin Julia Scheck (links) und das Filmteam „Die letzten Reporter“
Foto: Kerstin Hehmann
Festivalleiterin Julia Scheck (links) und das Filmteam „Die letzten Reporter“ Foto: Kerstin Hehmann

Neu auch das Streamingangebot ffos+. Hier stand ein Großteil des Festivalprogramms all jenen zur Verfügung, die unter den besonderen Umständen des Herbstes 2020 am Kinobesuch gehindert waren - bewusst als regionales Festivalangebot konzipiert, die Zahl der Tickets je Film deshalb auf 200 beschränkt. Die meisten Abrufe verzeichneten die Dokumentarfilme WALCHENSEE FOREVER und GARAGENVOLK von Natalija Yefimkina, die bei der Präsentation in Osnabrück die Bedeutung einer ausreichenden Drehzeit hervorhob: „Du musst suchen, du musst deine Charaktere auch finden, du musst ihre Entwicklung einfangen.“
Die Resonanz des Publikums bestätigt die Beobachtung des Dokumentarfilmers Jonas Heldt, der mit AUTOMOTIVE nach Osnabrück gekommen war: „Es gibt ein wachsendes Bedürfnis, die immer komplexer werdende Realität einzuordnen und andere Blickwinkel zu erfragen.“

Ein gutes Beispiel, dass die Erweiterung der Perspektive und zeitkritische Inhalte auch auf unterhaltsam-fiktionaler Ebene möglich sind, lieferte Johannes Naber mit CURVEBALL - WIR MACHEN DIE WAHRHEIT. Die Agentengroteske mit unter anderem dem international gefragten Hauptdarsteller Dar Salim („Game of Thrones“) erzählt, eng an Tatsachen orientiert, wie der deutsche Bundesnachrichtendienst aus falschem Ehrgeiz und aus Angst von einer Blamage 2003 zum Mitverursacher des Irakkrieges wurde. Der damalige Beauftragte für die Nachrichtendienste des Bundes Frank-Walter Steinmeier, heute Bundespräsident, wusste zur Zeit der entscheidenden Sitzung des Weltsicherheitsrates, dass die von den USA vorgelegten „Beweise“ gefälscht waren, behielt dieses Wissen aber für sich. Regisseur Naber zu diesem Skandal: „Ich möchte, dass darüber noch mal geredet wird.“

Premierenpublikum „Die letzten Reporter“ auf dem 35. Unabhängigen FilmFest Osnabrück
Foto: Kerstin Hehmann
Premierenpublikum „Die letzten Reporter“ auf dem 35. Unabhängigen FilmFest Osnabrück Foto: Kerstin Hehmann

Das 35. Unabhängige FilmFest Osnabrück endete am 25. Oktober mit der Verkündung der diesjährigen PreisträgerInnen. Die dreiköpfige Jury des Friedensfilmpreises der Stadt Osnabrück entschied sich für den US-amerikanisch-israelischen Dokumentarfilm „The Viewing Booth“. Im Rahmen der feierlichen Abschlussveranstaltung in der Osnabrücker Lagerhalle nahm Gerrit Sievert als Vertreter des Preisstifters, der Sievert Stiftung für Kunst und Kultur, die Ehrung vor. Der Friedensfilmpreis ist mit 15.000 Euro dotiert. Juryangehörige waren die Leiterin des Wiesbadener goEast-Festivals Heleen Gerritsen, die Kuratorin und Autorin Katrin Mundt und der Filmverleiher Björn Koll.

Als Verleiher betreut Jurymitglied Björn Koll den französischen Dokumentarfilm „Petite fille“ („Little Girl“), dem von einer aus Schülerinnen und Schülern bestehenden Jury der von der Stadt Osnabrück gestiftete Filmpreis für Kinderrechte zuerkannt wurde. Regisseur Sébastien Lifshitz bedankte sich per Videobotschaft. Das Kinderhilfswerk terre des hommes Deutschland e. V. ist Pate dieser Wettbewerbssektion.

Festivalleitung Julia Scheck eröffnet das Festival im Saal der Lagerhalle
Foto: Kerstin Hehmann
Festivalleitung Julia Scheck eröffnet das Festival im Saal der Lagerhalle Foto: Kerstin Hehmann

„Bewegt“ lautete die Überschrift für das Programm mit internationalen studentischen Kurzfilmen. Eine Besonderheit des Osnabrücker Festivals: Diese Auswahl wurde im Rahmen eines Seminars der Universität Osnabrück von Studierenden kuratiert. Über den Preis für den besten studentischen Kurzfilm entschied das Publikum und wählte den deutschen Beitrag „Bambirak“, das Regiedebüt der Kamerafrau Zamarin Wahdat. Wahdat war gemeinsam mit der elfjährigen Hauptdarstellerin Lara Cengiz und deren Familie zur Aufführung angereist und konnte die Auszeichnung persönlich in Empfang nehmen, die mit einer Preissumme in Höhe von 700 Euro verbunden ist. Für den Stifter, das Marketing Osnabrück, sprach dessen Geschäftsführer Alexander Illenseer seine Glückwünsche aus.

Auch der Studierendenrat der Universität Osnabrück engagiert sich für die kurze Form und vergibt 500 Euro für den besten Kurzfilm des Gesamtprogramms. Nomen est omen: „Masel tov“ bedeutet im Jiddischen „viel Glück“ oder „viel Erfolg“. Der fromme Wunsch wurde Wirklichkeit: Die Mehrheit der Stimmen ging an „Masel Tov Cocktail“ von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch. Auch hier erfolgte die Danksagung per Videobotschaft. Die Regisseure Arkadij Khast und Mickey Paatzsch begeisterten die Zuschauerschaft mit einem frechen Stil- und Themenmix über Vorurteile, Stereotype, Anti- und Philosemitismus.

In einem Jahr, in dem das Reisen durch behördliche Beschränkungen und freiwilligen Verzicht einen signifikanten Rückgang erfuhr, gestattete das Unabhängige FilmFest mit weltumspannenden Festivalsektionen wie „Focus Europe“ und „Vistas Latinas“ imaginäre und doch gemeinschaftliche Reisen unter anderem nach Brasilien, Chile, China, Iran, Lesotho, Russland, in die Türkei, die USA … Der Regisseur Fradique erinnert daran: „Das Kino wurde genau dafür geschaffen: Damit wir kleine Reisen in die Länder der anderen unternehmen können, in ihre Städte und Erinnerungen.“ Fradiques Plädoyer: „Haltet das Kino am Leben und passt auf euch auf.“

Weitere Informationen unter https://filmfest-osnabrueck.de.