Mit viel Schwung im 35. Jahr: Das Europäische Filmfestival Göttingen

Regisseurin Anne Villaceque in Göttingen
Regisseurin Anne Villaceque in Göttingen

Publikumspreis für PAPUSZA - DIE POETIN DER ROMA

Niedersachsens traditionsreichstes Festival präsentierte sich vom 21.- 30.11.2014 auch im 35. Jahr lebendig, vielseitig und attraktiv. Mit rund 3.700 Zuschauern blieben die Besucherzahlen auf erfreulich hohem Niveau. Wie gewohnt gab es drei Spielstätten: Das Lumière, der zum Kino umgerüstete „Alfred-Hessel-Saal“ im Gebäude der Alten Universitätsbibliothek im Zentrum der Stadt sowie das Clubkino des Studentenwerks. Der seit 2010 durch Kinoschließungen und Umbauten bedingte mehrfache Ortswechsel der zweiten Spielstätte war für Festival wie Publikum nicht ganz einfach, doch wird der „Alfred-Hessel-Saal“ mittlerweile von den Besuchern gut angenommen.

Bei den Abstimmungen zum Publikumspreis lieferten sich PAPUSZA aus Polen und DIE SPRACHE DES HERZENS aus Frankreich ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen, das schließlich die mitreißende Filmbiographie der ersten Roma-Dichterin Polens mit hauchdünnem Vorsprung für sich entschied.
Ergänzt wurde das Festival durch die Fotoausstellung „Über die Fronten hinweg / Au-delà des fronts“. Die Ausstellung stellt erst kürzlich wiedergefundene farbige Fotos eines deutschen und eines französischen Militärfotografen aus dem 1. Weltkrieg gegenüber und bot im Jubiläumsjahr des 1. Weltkriegs eine ungewöhnliche Aufarbeitung deutsch-französischer Geschichte.

Schwerpunkt: Aktuelles Kino aus Frankreich

Hauptdarstellerin Celeste Casciaro mit Regisseur Edoardo Winspeare
Hauptdarstellerin Celeste Casciaro mit Regisseur Edoardo Winspeare

Jedes Jahr steht im Mittelpunkt des Festivals das Filmschaffen eines ausgewählten europäischen Landes oder einer Region - 2014 war dies Frankreich. Die französische Filmszene ist nach wie vor die größte, wichtigste und innovativste in Europa, und das Europäische Filmfest bot mit zwölf neuen Produktionen einen vielfältigen Querschnitt durch das Filmschaffen unseres Nachbarlands. Den Auftakt machte zur Eröffnung die Deutschlandpremiere von  WOCHENENDEN IN DER NORMANDIE, gedreht im Wechsel der Jahreszeiten an der normannischen Küste mit einem exzellenten französisch-deutschen Darstellerquartett, darunter Ulrich Tukur. Regisseurin Anne Villacèque stellte ihren Film unter großem Beifall persönlich in Göttingen vor.  

Eine weitere Deutschlandpremiere aus Frankreich war GARE DU NORD von Claire Simon über menschliche Schicksale auf dem gleichnamigen Pariser Bahnhof. Claire Simon musste ihren Besuch in Göttingen leider kurzfristig absagen. Viel Erfolg beim Göttinger Publikum hatten PARIS FOLLIES, eine spritzige Komödie mit Isabelle Huppert, DIE WOLKEN VON SILS MARIA, der neue Film von Olivier Assayas mit Juliette Binoche, der elegante Psychothriller L’AMOUR EST UN CRIME PARFAIT und DIE SPRACHE DES HERZENS, die ergreifende wahre Geschichte eines taubblind geborenen Mädchens im 19. Jahrhundert.

Ein zweiter Schwerpunkt liegt traditionsgemäß auf dem italienischen Filmschaffen. Unter dem Motto „Cinema! Italia“ waren sechs neue Filme zusammengestellt, darunter SACRO GRA - DAS ANDERE ROM, Gewinner des Goldenen Löwen der Filmfestspiele Venedig 2013, oder DIE LEICHTIGKEIT DES GLÜCKLICHSEINS von Gianni Amelio, einem der großen Altmeister des italienischen Kinos. Regisseur Edoardo Winspeare und Hauptdarstellerin Celeste Casciaro kamen zur Vorführung ihres in Apulien gedrehten Films IN GRAZIA DI DIO - EIN NEUES LEBEN nach Göttingen und diskutierten lange vor ausverkauftem Saal über den eindrucksvollen Film und die gesellschaftlich-ökonomische Krise in Italien.

SECOND THOUGHTS
SECOND THOUGHTS

In der Reihe „Europäische Premieren“ gab es hochkarätige Previews aus Großbritannien wie das mit vielen Preisen ausgezeichnete Drama THE SELFISH GIANT von Clio Barnard oder die neuen Filme von Mike Leigh (MR. TURNER) und Terry Gilliam (THE ZERO THEOREM). Aus Schweden wurde der diesjährige Festivalsieger von Venedig EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG… von Roy Andersson präsentiert, aus Russland LEVIATHAN, ein großes zeitgenössisches Epos von Andrej Zvjagincev, und aus Polen der letztendliche Publikumspreisgewinner PAPUSZA.

Erstmals konnte das Festival zwei Welt-Uraufführungen präsentieren, wenn auch mit gewissem Heimvorteil: Die Dokumentation EIN ANDERER WEG - PAULA MODERSOHN-BECKER von Fenja Pretzsch und die ironische Film-Noir-Hommage SECOND THOUGHTS von Dennis Dellschow wurden beide direkt in Göttingen produziert und die Filmemacher vom Premierenpublikum begeistert gefeiert. Eine weitere niedersächsische Produktion war WEGE ZUM GLÜCK zum Thema Inklusion von Agnieszka Jurek und Carsten Aschmann, die aus Hannover anreisten. Auch VIELEN DANK FÜR NICHTS vom Ex-Göttinger Stefan Hillebrecht und FOR NO EYES ONLY von Tali Barge kamen bei den Zuschauern hervorragend an.

Zwei Kurzfilmprogramme mit den preisgekrönten Nord Shorts aus Niedersachsen und Wyld Stories aus Schottland boten filmische Highlights in konzentrierter Form. Auch zahlreiche Schulvorstellungen am Vormittag sind fester Bestandteil des Festivals.

Weitere Informationen: www.filmfest-goettingen.de